Die Renaissance des ESV Münster – und keiner weiß wieso

Das Herzstück der ESV-Sportanlage – der Rasenplatz an der Robert-Bosch-Straße

Als der Schiedsrichter nach 90 langen Minuten das Spiel beendet, steht den Spielern in schwarz die Erlösung förmlich ins Gesicht geschrieben. Es war mal wieder einer dieser Tage an denen überhaupt nichts läuft. Mit 0:13 geht die 2. Mannschaft des ESV Münster gegen den SV Teutonia Coerde vom Platz und ist schlussendlich erleichtert, zumindest die letzte halbe Stunde ohne Gegentor überstanden zu haben.

„Als unter der Woche über 20 Absagen für das Spiel am Wochenende eintrudelten, habe ich angesichts der Stärke des Gegners schon mit so einem Ergebnis gerechnet. Heftige Niederlagen gehören bei uns leider einfach dazu.“

Till von Borzeszkowski, Trainer der 2. Herren des ESV Münster

Hohe Niederlagen und übermächtige Gegner ist man beim ESV Münster gewohnt. Der ganze Verein steht seit Jahrzehnten nicht gerade sinnbildlich für sportlichen Erfolg. Die 2. Herren landen mit großer Zuverlässigkeit auf den letzten Plätzen der Kreisliga C, der niedrigsten Spielklasse im Kreis Münster. Die 1. Mannschaft ist nicht viel erfolgreicher. In der Saison 2021/22 gelang der Aufstieg in die Kreisliga als Tabellenvierter nur, weil die ersten Drei freiwillig verzichteten. Letzte Saison wurde mit Ach und Krach die Klasse gehalten, diese Saison sieht es nicht so aus, als könne der Abstieg verhindert werden.

Ein bekanntes Bild –
die Spieler des ESV Münster holen den Ball aus dem eigenen Netz.

Historisch gesehen war der 1927 als Betriebssportverein gegründete Eisenbahner Sportverein Münster stets der Underdog und konnte dennoch einige Achtungserfolge feiern. So besiegte man 1960 den Stadtrivalen und damaligen Erstligisten Preußen Münster im Westdeutschen Pokal mit 2:0, stieg in die höchste Amateurklasse auf und landete in der anschließenden Saison nur knapp hinter den Aufstiegsrängen in der Verbandsliga Westfalen. Fundament für die Hochphase der Eisenbahner war die gute Jugendarbeit. Im Anschluss an diese Erfolge zerfiel die Erfolgsmannschaft um die Brüder Bernhard, Wolfgang und Manfred Pohlschmidt jedoch. Es folgte der stete Niedergang:

  • 1981 stieg die erste Mannschaft aus der Bezirksliga ab.
  • Im Jahr 2018 stand am Ende des Absturzes dann der Abstieg in die Kreisliga C.
  • Zum Sommermärchen 2006 stand der Verein kurz vor der Pleite und konnte nur mithilfe der Stadt vor dem finanziellen Ruin bewahrt werden.
Zu Gast beim ESV Münster –
Gespräch mit Kevin Grönewäller (Spieler der 2. Herren und Trainer der C-Junioren)

Knapp 20 Jahre später blickt man beim ESV Münster deutlich optimistischer in die Zukunft. Während es in der Saison 2015/16 nur noch zwei Herrenmannschaften und drei Jugendmannschaften gab, sind in der aktuellen Saison zwei Herren, eine Altherren-, sowie acht Jugendmannschaften zum Spielbetrieb gemeldet. Von den Minikickern unter sechs Jahren bis zur B-Jugend sind alle Jahrgänge das erste Mal seit langen Zeiten wieder durchgängig besetzt. Zählte die Fußballabteilung vor 10 Jahren nur knapp 200 Mitglieder, sind es inzwischen über 350 – Tendenz weiterhin steigend.

Insbesondere in den jüngeren Jahrgängen kommen regelmäßig Eltern ans Vereinsgelände und wollen ihre Kinder anmelden. Bernd Walters, bereits in verschiedenen Funktionen tätig und fest mit dem Verein verwurzelt, staunt, ob dieser Entwicklung:

„Vor einigen Jahren waren wir als Verein so gut wie begraben und jetzt sind wir gerade für die jüngeren Kinder eine der beliebtesten Adressen im Münsteraner Jugendfußball.“

Bernd Walters, Trainer der G-Junioren (U6)

Die Gründe für den Aufschwung sind bei einem oberflächlichen Blick auf die Gegebenheiten nicht unbedingt offensichtlich. Das Vereinshaus samt Kabinentrakt wurde in den letzten Jahren zwar mit viel Herzblut und Eigenarbeit renoviert, um den Schimmel und Muff der dunkleren Jahre zu beseitigen, modern und luxuriös ist aber weiterhin nicht unbedingt das, was dem neutralen Betrachter als Erstes einfallen dürfte.

Die finanzielle Lage hat sich, nicht zuletzt durch die Gewinnung neuer Sponsoren, in den letzten Jahren deutlich entspannt. Dies ermöglicht es beispielsweise alle Mannschaften mit Laibchen, Trikots und weiteren Materialien auszustatten. Auch dies war in der Vergangenheit nicht selbstverständlich. Es erklärt aber nicht, warum viele Spieler selbst aus den Jugendabteilungen größerer, finanzkräftigerer Vereine an die Robert-Bosch-Straße wechseln wollen. Im Gegenteil, der ESV ist der einzige Verein in ganz Münster, der keinen Kunstrasenplatz hat. Im Winter müssen alle Mannschaften auf den, auf der anderen Straßenseite gelegenen, staubigen Ascheplatz ausweichen. Ein eklatanter Wettbewerbsnachteil im Werben neuer Mitglieder.

Der Ascheplatz ist in den Wintermonaten die einzige Trainings- und Spielmöglichkeit
für die Mannschaften des ESV.

Stellt man den Mitgliedern die Frage, warum sie ausgerechnet beim ESV sind, bekommt man fast immer die gleichen Antworten: bei vielen sind Familie und Freunde bereits Teil des Vereins, außerdem spricht fast jeder über die besondere Atmosphäre, die Offenheit und das gegenseitige Füreinander-Dasein. Insbesondere diese Aspekte sind für die meisten ein zentraler Entscheidungsgrund Mitglied bei den Eisenbahnern zu werden. Man fühle sich wertgeschätzt und willkommen beim ESV.

Der gesamte Verein sieht sich als eine große Familie, das hebt den ESV von seinen Nachbarvereinen, die objektiv gesehen über deutlich bessere Rahmenbedingungen verfügen, scheinbar ab. In der Fußballabteilung der Eisenbahner ist jeder unabhängig von Leistungsniveau, Herkunft, Sprache oder Kultur willkommen. Diese Offenheit wird im Vereinsalltag groß geschrieben und von allen gelebt. So gibt es zum Beispiel durch die ESV-Kleiderbörse für alle Mitgliedern die Möglichkeit, unabhängig vom Einkommen, sich mit Sportkleidung auszustatten und am Vereinsleben Teil zu haben.

Familie wird beim ESV großgeschrieben –
viele Mitglieder kommen mit Kind und Kegel zum Training oder zu den Spielen

Hoffnung gibt es auch bezüglich der Infrastruktur, laut der Stadt Münster sei der ESV als Nächstes an der Reihe endlich auch einen Kunstrasenplatz zu bekommen. Bis dahin gilt auf tiefem Rasen oder staubiger Asche das Motto, dass im Mannschaftskreis, über alle Altersklassen hinweg, vor den Spielen stets gebrüllt wird:

„Einmal ESV – immer ESV!“